Archivwissenschaft
Bewertung: Beurteilung der Archivwürdigkeit
Die Bewertung oder Beurteilung der Archivwürdigkeit ist eine Kernkompetenz der Archivare und Archivarinnen. Angesichts der exponentiellen Zunahme der Aktenproduktion im 20. und 21. Jahrhundert ist eine gezielte Auswahl der wenigen(!) archivwürdigen Unterlagen unausweichlich. Diese Auswahl soll gemäss nachvollziehbaren, begründeten Kriterien erfolgen. Im Folgenden werden die verschiedenen Bewertungsdimensionen und die entsprechenden Bewertungskriterien vorgestellt.
Rechtliche Dimension
Leitfrage:
„Wie lange müssen die Unterlagen aus rechtlichen Gründen aufbewahrt werden?“
Die rechtliche Aufbewahrungsfrist ist eine gesetzliche Frist, welche die minimale Aufbewahrungsfrist für bestimmte Unterlagen definiert. Für Geschäftsunterlagen beträgt diese Frist in der Regel minimal 10 Jahre (Art. 962 OR, SR 220). Eventuelle längere Fristen sind in Spezialgesetzen geregelt. Somit müssen die meisten Unterlagen aus rechtlichen Gründen nicht dauernd aufbewahrt werden.
Unterlagen, welche dauernd bestehende Rechten und Pflichten nachweisen, sind archivwürdig (Grundbuch, Staatsverträge).
Aus rechtlichen Gründen ebenfalls archivwürdig sind Unterlagen, welche normative Rechtstexte und ihre Gültigkeit dokumentieren (Verfassung, Gesetze, Verordnungen).
Administrative Dimension
Leitfrage:
„Welche Informationen benötigt der Produzent der Unterlagen wie lange, um funktionsfähig zu bleiben?“
Die administrative Aufbewahrungsfrist richtet sich nach den Bedürfnissen des Produzenten der Unterlagen. Es geht um Rechenschaftspflichten, die über minimale gesetzliche Aufbewahrungsfristen hinausgehen und als good governance oder compliance durch staatliche oder private Akteure formuliert werden.
Es geht um diejenigen Informationen, die im Gedächtnis einer juristischen oder natürlichen Person dauernd aufgezeichnet bleiben sollen, damit sie ihre Aufgaben erfüllen und ihre Verantwortung wahrnehmen kann. Der administrative Wert ist an den Unterlagenproduzenten gebunden, was bedeutet, dass die Archivwürdigkeit nicht mehr gegeben ist, wenn der Unterlagenproduzent oder sein Rechtsnachfolger nicht mehr existiert sollte.
Historische Dimension
Leitfrage:
„Welche Informationen wollen wir der Zukunft überliefern?“
Die historische Bedeutung von Unterlagen kann nur aus der Sicht unserer Gegenwart bestimmt werden. Wir können nicht wissen, mit welchen Fragestellungen zukünftige Forscher und Forscherinnen unsere Gegenwart untersuchen wollen. Die Bestimmung des historischen Werts ist deshalb ein qualitatives Urteil oder ein Werturteil, das im vollen Bewusstsein seiner gegenwartsbedingten Beschränkung gefällt wird. Die Bestimmung des historischen Werts soll nicht den Unterlagenproduzenten allein überlassen werden, denn wir alle sind Produzenten der Geschichte und damit auch an deren Überlieferung interessiert.
Kulturelle Dimension
Leitfrage:
„Welche Bedeutung haben Dokumente als Objekte der Erinnerung?“
Der kulturelle Wert wird bestimmt durch die besondere Bedeutung, welche die Dokumente als Objekte für die Nachwelt haben. Es geht um Unterlagen, die eine direkte Verbindung aufweisen zu einer bedeutenden Persönlichkeit oder zu einem besonderen historischen Ereignis. Als Objekte der Erinnerung erfüllen sie die Funktion eines mobilen Denkmals.